Neujahrsempfang
Warum auf einen Neujahrsempfang?
"Gehen wir da hin?" frage ich meine Frau, als ich eine Einladung zu einem "Neujahrsempfang" in der Post finde; einer von den vielen Zehntausend Empfängen, die im Januar das ganze Land und das taufrische Jahr wie ein mächtiger Tsunami überrollen. "Es ist doch immer dasselbe: Du stehst inmitten von Hunderten, du suchst nach einem bekannten Gesicht, schüttelst ein paar Hände, tauschst ein paar Gesprächsfetzen - wenn du Glück hast -, und das war es dann." Mit diesen Worten versuchte ich, meine Frau zu einer Absage zu überreden. Aber: Weit gefehlt! "Natürlich gehen wir da hin", sagte meine Frau. - "Du bist aber gar nicht eingeladen", antworte ich nun blitzschnell, denn ich hatte soeben entdeckt: Ihr Name steht gar nicht auf der Einladung. "Aber dann geh doch wenigstens du, für mich ist ein solcher Empfang gar nicht wichtig."
Damit war der Schwarze Peter bei mir, zumal meine Frau noch eine Weisheit nachgeschoben hat, die auf eine genaue Beobachtung des immer schneller laufenden Event-Karussells beruht: "Wenn du absagst, bist du in Zukunft nicht mehr auf der Einladungsliste. Und das willst du doch auch nicht."
Um es kurz zu machen: Ich folgte der Einladung und - ich habe es nicht bereut! Ja, ich habe es sogar genossen, dabei zu sein im Gedränge an der Garderobe, im Saal, an der Bar, bei den Reden. Denn was ist ein Empfang - und erst recht: Was ist ein Neujahrsempfang?
Ein Empfang sagt dir: Du bist nicht allein. Du bist es wert, eingeladen zu werden. Vor über 2000 Jahren schrieb Seneca: "Das Leben ist eine Bühne, du kommst, schaust und gehst." Der Empfang ist die klitzekleine Bühne in der großen Bühne, auf der wir alle das Stück "Unser Leben" spielen.
Empfänge sind (wie Partys) keine Mittel gegen Einsamkeit, nur eines gegen das Alleinsein. Aber es gibt einen Urtrieb in uns: Wir möchten erforschen, wie schnell die Lebensuhr bei anderen Menschen läuft, was es für Glücksrezepte gibt, die wir noch nicht kennen. Die Gesprächsfetzen sind dabei wie Morsezeichen: "Wir müssen uns unbedingt wieder mal treffen." - "Ich rufe Sie morgen an." - "Blendend schauen Sie aus!" - "Wenn Sie wüssten, wie oft wir von Ihnen gesprochen haben." - "Sie werden überhaupt nicht älter." Und dann die besonders scheinheilige Frage: "Wie machen Sie das eigentlich?"
Was den Neujahrsempfang von allen anderen Empfängen unterscheidet, ist der Zauber, der jedem Anfang innewohnt. Neues Jahr, neues Spiel, neues Glück. Es sieht im Januar so endlos aus, das neue Jahr. Ist es ein Teppich, weich und einladend? Ist es eine Straße voller Warndreiecke? Ist es ein dunkler Wald, in den wir wie Kinder pfeifend hineinlaufen? Ist es ein Meer, stürmend, bedrohend? Wir wissen nicht, was auf uns zukommt. Da ist beruhigend festzustellen: Man ist wenigstens nicht allein. Als ich nach zwei Stunden ging, hatte ich 22 persönlich formulierte Wünsche für ein gesundes neues Jahr eingesammelt, so viel Zuwendung auf einen Schlag gibt es sonst nirgends. Und es war alles viel leichter, auch herzlicher, als ich es mir vorgestellt hatte.
Das Erfolgsgeheimnis solcher Empfänge hatte sich mir an diesem Morgen wieder einmal offenbart: Ich muss nicht bei einem gesetzten Essen an der Seite eines fremdbestimmten Nachbarn festgeschraubt und für Stunden an ihn gefesselt ein Gespräch führen, das mich vielleicht überhaupt nicht interessiert. Empfang bedeutet vielmehr: die ganz große Auswahl, den Small Talk, den Austausch von Visitenkarten, die Schnellfeuerwaffen der Kommunikation - Empfang bedeutet die Überraschung, Menschen plötzlich wiederzusehen, die man schon jahrelang aus den Augen verloren hatte, bedeutet auch die Freiheit, sich aus dem Staub zu machen. - "Wir sehen uns noch", heißt die Formel.
All das kann man natürlich nur genießen, wenn man eingeladen ist. Aber auch bei Empfängen ist es wie im richtigen Leben. Ich erinnere mich an ein Wort von Hans Carossa: "Leben ist eine Zusammenkunft, zu der immer nur eine begrenzte Zahl geladen ist - und nie wird die Einladung wiederholt." Ein dramatisches Wort! Es bedeutet: Wir müssen hier und heute unseren Part spielen. Und was im Großen gilt, gilt auch im Kleinen: Sind Sie eingeladen, gehen Sie hin! Seien Sie aufmerksam zu denen, die Ihre Nähe suchen. Genießen Sie die Aufmerksamkeit, die man Ihnen schenkt. Aufmerksamkeit ist die kostbarste Währung unserer Zeit.
Quelle: WeltOnline